Gut erzogen? Was ist das eigentlich?

Ich liebe Kinder, die opponieren. Sie geben mir Hoffnung, dass ich Nachfolger habe.
Heute Morgen musste ich spontan über folgendes nachdenken. Schlecht erzogen? Gut erzogen? Was heißt das eigentlich? Kann eine angeblich schlechte Erziehung nicht auch ein wahrer Segen sein? Und kann ein Kind nicht ebenfalls gesegnet sein, das gegen ein gute Erziehung opponiert?
Max Stirner schrieb einmal so ähnlich, ihm sei jedes ungehorsame Kind lieber als der gehorsame und wohlerzogene Geist. Ich sehe das auch so.
Ich erinnere mich an einen
Grillabend, zu dem ich meine Freunde eingeladen hatte. Sie hatten 2 Jungs im Teenageralter und brachten noch einen
jüngeren Sohn eines Bekannten mit. Meine Freunde meinten aus irgendeinem Grund, mich zuvor unbedingt noch wissen zu lassen, wie
unglaublich gut dieser Junge doch erzogen sei. In der Tat begrüsste er mich beim Betreten meines Hauses
wie ein Untertan seinen König
wohl einst grüsste und ich hatte fast das Gefühl, dass er darauf wartete
von mir gesegnet zu werden. Er bewunderte mein Reich mit grosser Anerkennung und hinterliess auf dem Weg zum Balkon
eine breite Schleimspur.
Als wir am Tisch saßen und futterten meinte er schließlich: "Also, Herr Stephan, ihr Grillgut schmeckt vorzüglich. Ich muss gestehen, ich erinnere mich an keinen Grillabend bei dem ich so gut gespeist habe." Das war der Moment an dem ich ihm mit meiner Grillzange am liebsten die Ohren lang ziehen wollte. Aber, ich war ja gut erzogen, und haute ihm nicht einmal eine Bratwurst um die Ohren, was ich tatsächlich kurz als durchaus tragbare, realistische und alternative Reaktion in Betracht gezogen hatte.. Stattdessen antworte ich nur: "Das freut mich. Hau rein."
Bei der Verabschiedung sprach ich zu meinem Freund leise, so dass der holde Knabe es nicht hörte.
"Gute Erziehung kann echt nerven. Also Eure Kids sind mir da deutlich lieber."
In einem ungehorsamen Kind flackert
noch die Fackel der Freiheit und des Egoismus auf, die so manchen Erwachsenen blenden oder ihn
zum Feuer löschen verleiten mag. Ich sehe jedoch darin ein
Licht der Hoffnung, an dem ich mich gerne wärme und das ich brennen lasse.
Manchmal heize ich das Feuer sogar noch so richtig an. Soll die Welt der Erwachsenen doch ruhig einmal in Flammen stehen.
Das wiederum erinnert mich an ein Ereignis, das noch viel weiter zurückliegt. Ein paar Schüler und ich waren bei einer unserer Biologie-Lehrerin eingeladen. Sie war alleinerziehend und hatte einen kleinen Jungen, der an diesem Abend extrem nervte. Er schlug fast jeden, riss dem ein oder anderen an den Haaren, lachte fies und pinkelte sogar plötzlich in die Wohnung. Unsere Lehrerin lächelte stets etwas verlegen, meinte aber, sie erziehe ihren Sohn komplett antiautoritär. Statt einer klaren Ansage begann sie sich mit ihm vernünftig zu unterhalten und ihm zu erklären, dass er doch lieber auf die Toilette gehen und nicht jeden hier schlagen sollte. Woraufhin er zu mir rannte und mich schlug und mir gerade an den Haaren ziehen wollte, als ich ihm heftig eine scheuerte. Eine Sekunde der Stille, dann schrie der Kleine und rannte heulend zu seiner Mutter, die mich zuerst entsetzt anschaute und dann anschrie. Ich lächelte jedoch ruhig zurück. Ich erklärte ihr, dass meine Eltern mich antiautoritär erzogen hätten und ich jetzt ein ganz vernünftiges Gespräch bevorzugen würde. Ich versprach ihr auch nicht in die Wohnung zu pinkeln. Es ist selbstredend, dass ich damals nicht nur als Erster die Wohnung verlassen musste, sondern auch den Vorleistungskurs, den ich bei ihr hatte. Ansonsten wäre mein Abitur in Gefahr gewesen.
So ist das mit der Erziehung, Es empfiehlt sich, diese immer wieder zu hinterfragen. Was gibt man da eigentlich weiter. Warum tut man es? Wie wurde man selbst abgerichtet und was ist an der eigenen Dressurleistung, die man täglich vollbringt, wirklich vorbildlich?
Mein Sohn ist zum Beispiel ein absoluter Grußmuffel. Das war er schon immer. Ich habe zum Spaß und aus Neugierde vieles versucht, um ihn umzudrehen. Ich hatte ihn mit Nachdruck dazu aufgefordert, ihn liebevoll gebeten, ihn verzweifelt angefleht und ihm mit Entzug von Süssigkeiten gedroht, aber nichts half. Er blieb sich treu und lässt mich stets grusslos zurück.
"Gute Nacht mein Sohn". Stille. "Ich liebe Dich, Schlaf gut." Schweigen. So auch stets am Morgen. "Guten Morgen". Keine Antwort. "Gut geschlafen?" Null Reaktion. Ich akzeptiert es und es amüsiert mich sogar zum Teil. Ich halte auch nichts vom Zwang. Von Bestechungen schon eher was. Und warum sollte er mich auch grüssen? Weil es mir gefällt? Weil man das so macht? Wer bin schon ich und wer ist man? Ausserdem: Hatte ich ihn nicht schon als Kleinkind in Ruhe gelassen, wenn er Erwachsenen nicht die Hand geben oder sie freundlich zurück grüssen wollte? Bleibt die Frage offen: Mag mein Sohn mich nicht?
Nun. So sehr andere mit meinem Grussmuffel vielleicht nicht klar kommen, um so mehr bin ich jedes Mal geflasht, wenn er mich plötzlich aus dem Nichts heraus fest umarmt, seinen Kopf an meine Brust schmiegt und einige lange Sekunden so verharrt. Dann schenkt er mir zum Anschluss noch ein liebevolles Lächeln und geht wieder seiner Wege.
So war es auch heute Morgen wieder. Guten Morgen".
Keine Antwort. "Gut geschlafen?"
Nichts. 5 Minuten später stand ich an der Kaffeemaschine und wurde von ihm umarmt und geknuddelt. Ja, so ist es er und ist das nicht
1000mal schöner, als jeder
gut konditionierte Grußmeister? Meine Antwort ist wohl klar.





